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Bücher

Bücher verkaufen oder behalten?

Über die Jahre habe ich eine durchaus beachtliche Anzahl von Büchern angesammelt, die zwar nicht mit vielen Bibliotheken anderer Leute mithalten können, sich aber doch zumindest bei jedem Umzug bemerkbar machen. Gerade die Umzüge haben – neben finanziellen Erwägungen – meine Buchkäufe stark gedämpft.

Eine Zeitlang habe ich mich mehr aus Bibliotheken versorgt, aber gerade im Ausland ist es oft schwierig, an gute deutschsprachige Bücher heranzukommen. Die fremdsprachige Lektüre ist oft etwas mühsam und erscheint mir auch seltsam, wenn das Original eigentlich auf Deutsch erschienen ist.

Eine moderne Alternative besteht darin, dass man Bücher nur noch digital liest. Das ist zwar praktisch, vor allem im Zug oder wenn man mit kleinem Gepäck auf Reisen ist, aber es geht auch ein wichtiger haptischer und ästhetischer Aspekt verloren. Digitale Daten haben zudem die Tendenz schnell zu verschleißen – sei es, weil alte optische oder magnetische Träger zunehmend Fehler aufweisen, weil ein Online-Account erlischt oder weil alte Datenträger einfach nicht mehr kompatibel sind.

Bei einigen Büchern ist es klar, dass ich mich nicht von ihnen trennen will. Dann aber gibt es solche Grenzfälle: Wörterbücher von Sprachen, die ich einmal zu lernen versucht habe. Romane, die zwar nett sind, aber auch nicht umwerfend. Geschenkte Bücher, die mir weit weniger bedeuten als diejenigen Personen, die sie mir geschenkt haben.

All diese mittelwertigen Bücher füllen bei jedem Umzug durchaus einige große Kartons. Dann in der Wohnung tragen sie eher als Staubfänger oder dekorative Elemente zur Gesamtatmosphäre bei. Vermutlich würde ich sie gar nicht mal vermissen, wenn sie weg wären. Und wenn doch, dann käme ich sicher wieder an ähnliche Exemplare heran.

Oft empfinde ich sie auch einfach als Last, als Mobilitätshindernis. Sie haben nicht nur ein materielles Gewicht, sondern auch ein imaginäres. Hätte ich irgendwo einen Ort, wo ich dies alles lassen und vergessen könnte, wo es trocken und sicher ist, dann wäre dies alles kein Problem. Aber momentan trage ich alles mit mir herum.

Unter Wert verkaufen?

Die Frage drängt sich auf, ob ich diejenigen Bücher, die ich nie in die Hände nehme und die eigentlich ersetzbar sind, die aber zu gut zum Wegwerfen sind, nicht einfach verkaufen soll. Zu den deutschen Online-Börsen habe ich hier in Prag nicht so ohne weiteres Zugang. Also blieben Läden mit gebrauchten Büchern. Bevor ich allerdings diese Werke zum Kilopreis loswerde, besteht immer noch die Möglichkeit, mir einmal zum Vergleich den Preis von entsprechenden Lagerräumen auszurechnen. Denn auch ein ungünstiger Verkauf ist wie ein Verlust.

Wenn ich Bücher unter ihrem Wert verkaufen muss, weil es hier keine Alternativen gib, dann kann ich auch andere und vielleicht günstigere Optionen erwägen. Zumal wenn ich gezwungen wäre, diese Bücher bloß auf ihr Volumen oder Gewicht zu reduzieren, dann ist es nur konsequent, sie einfach irgendwo einzulagern, bis mal jemand Besseres mit ihnen anzufangen weiß.

Gut, die Frage bleibt ungelöst. Vielleicht aber tendiere ich eher zum Lagern und, falls ich die Bücher wirklich einfach loswerden will, zum Verschenken in gute Hände.

Warum mache ich Budo?

Es gibt Seminare, auf denen sich deutlich Unterschiede in den verschiedenen Motivationen feststellen lassen, warum die Teilnehmer Budo1 machen. In vielen, vielleicht sogar den meisten Budo-Arten lässt sich nicht erwarten, dass sich diese Techniken einmal in der realen Welt einsetzen lassen. Viele von ihnen gehen von einem Kampf mit einem japanischen Schwert oder ähnlichen Waffen aus. Das ist heute nicht ganz realistisch, und so wie ich die meisten Teilnehmer einschätze, sind sie im allgemeinen auch ganz froh darüber.

Bei vielen Leuten habe ich das Gefühl, dass sie sich in so eine Art “Softie Samurai”-Rolle hineinträumen, wo sie sich eine Weile stark fühlen dürfen, um dann nach drei Stunden wieder in die Couch sinken zu dürfen. Vielen geht es um das Treffen mit Anderen oder um eine sportliche Betätigung, die sehr viel Geist mit einschließt.

Hin und wieder treffe ich auf jemanden, der Budo offenbar als eine Ansammlung von Techniken betrachtet, in der man unentwegt Fehler beseitigt – je mehr, desto besser. Es liegt in der Natur der Sache, dass man nie damit fertig sein wird. Alles lässt sich noch verbessern und auf höhere Ebenen heben. Es kommt immer etwas Neues hinzu. Und zugleich vergisst und verlernt man vieles wieder.

Es gehört ganz sicher zu Budo, dass man lernwillig ist und, wie man so schön sagt, sein Ego an der Tür zum Dojo2 zurück lässt. Allerdings stellt sich hier bei mir die Frage, ob dies wirklich das Ziel ist.

Wenn ich etwa eine Fremdsprache lerne, mache ich es allein dazu, um Vokabeln und Grammatik zu pauken und darin immer besser werden, aber doch nie gut genug zu sein?

Nein. Ganz sicher nicht. Ich will die Sprache benutzen, ich will damit kommunizieren, oder Werke lesen, vielleicht sogar verfassen.

Auf Budo übertragen heißt es, dass ich es anwenden will – nicht im ursprünglichen Sinne, sondern im Miteinander mit anderen Praktizierenden oder auch im Selbststudium. Ich will diese Momente erleben, in denen etwas einfach gut läuft, in denen ich wieder ein Stück begriffen habe (oder begriffen zu haben glaube), so wie man schwierige Rätsel löst und sich selbst überrascht, was man alles mit Fleiß und Ausdauer erreichen kann. Ich freue mich, wenn ich jemandem helfen kann oder wenn jemand mir hilft, und sei es nur dadurch, dass wir uns als Trainingspartner zur Verfügung stellen und unsere eigenen Interessen zurück stellen.

Vielleicht reicht diese Erfahrung sogar in das Leben außerhalb des Dojos hinaus, dass ich mich anders bewege oder den Körper anders wahrnehme, dass ich anders mit Konflikten umgehe oder dass sich Freundschaften entwickeln, die sonst nicht möglich gewesen wären.

In dem Sinne ist das Budo-Studium so pragmatisch wie das Erlernen einer Fremdsprache, wo man schon im Klassenzimmer eine bestimmte Beziehung zum Lehrer und den Mitschülern entwickelt und wo sich allmählich neue Sichtweisen und Welten öffnen und neue Menschen zugänglich gemacht werden.

Das Verbessern der Fehler ist nur eine Bedingung des Lernens und des Arbeitens an sich selbst, um diese Erfahrung immer wieder neu erleben zu können. Wenn es jedoch zum Selbstzweck erhoben wird, dann ist da etwas verloren gegangen.

WordCamp Prag 2018

Eindrücke vom WordCamp in Prag

Wann ich mit WordPress angefangen habe, weiß ich nicht mehr. Mein erster Beitrag hier stammt von 2008. Seit fast 6 Jahren biete ich Plugins an. Mit WordPress habe ich seit vielen Jahren beinahe täglich zu tun. Angesichts des Stellenwertes von WordPress in meinem gegenwärtigen Leben wundert es mich, dass ich bislang nie auf einem WordCamp gewesen bin.

Nun schließlich war es so weit: mein erstes WordCamp! Nachdem ich als Teilnehmer schon BarCamp und als Sprecher TechCamp kennengelernt hatte, bin ich an das Prager WordCamp natürlich mit bestimmten Erwartungen herangegangen. Was ist nun daraus geworden?

Erinnerungen an die Uni

WordCamp Prag logo 2018

Insgesamt war es eine schöne und lohnende Erfahrung. Die Leute dort sind nett, und ihre Begeisterung kommt überall herüber. Es gibt keine Dünkel von Experten gegenüber Neulingen, und niemand blamiert sich mit einfachen Fragen. Ich fand es überraschend, dass die Präsentationen alle den Charakter von Lehrveranstaltungen hatten – passend zum Veranstaltungsort, nämlich einer ökonomischen Hochschule. Die Wissensvermittlung stand immer im Vordergrund.

Ich hätte eigentlich eher impuls- oder richtungsgebende Vorträge erwartet, Blicke auf die Gesamtentwicklung, und eher visionäre Beiträge. Aber wie es letztendlich stattfand war es auf jeden Fall nützlich, und es bestand wenig Gefahr, dass es einem Sprecher nur um die Selbstdarstellung ging. Alle Präsentationen waren angenehm offen und unprätentiös. Vielleicht ist das der Einfluss von Open Source.

Einige Veranstaltungen, wie etwa die Fallstudien, fanden für alle Teilnehmer statt, während wir uns sonst zumeist in Benutzer und Entwickler aufteilten. Die Themen waren alle nicht schwer, aber es tauchten zuweilen Webseiten, Programmiersprachen, Frameworks und dergleichen auf, die ich nicht oder nur vom Namen her kannte. Interessant und relevant waren für mich vor allem die Themen VersionPress und Gutenberg, und auch einige Erfahrungen von Bloggern und Webseitenbetreibern, die einen ehrlichen Blick hinter die Kulissen ermöglichten.

Kontroverses Mainzelmännchen

Gutenbergs Leseliste
Gutenbergs Leseliste

Gutenberg, benannt nach Johannes Gutenberg, ist so etwas wie Raumschiff Enterprise oder Armageddon, je nachdem, in welchem Lager man sich befindet. Es handelt sich um einen neuen Editor, der schrittweise ganz WordPress bis hin zum Seitenlayout revolutionieren soll, indem der Inhalt in Blöcken organisiert wird.

Als Blogger und Softwareentwickler lasse ich mich so allmählich von den Vorteilen und wohl auch der Notwendigkeit dieser Entwicklung überzeugen. Allerdings bleibt doch ein Problem bestehen: Diese Neuerungen erfordern einen Riesenaufwand, um die neuen Technologien und Konventionen zu erlernen und die alte Software darauf umzustellen.

Das sind Tage oder Wochen an entgangener Freizeit oder unbezahlter1 Arbeitszeit, und dies alles unter einem völlig unnötigen Zeitdruck. Mit Mühe und Not wird es Gutenberg vielleicht noch dieses Frühjahr in den WordPress-Core schaffen. Aber wie bitte soll bis dahin diese Unzahl an Plugins und Themes umgestellt werden? Das mag in Firmen funktionieren, die sich ein paar hauptamtliche Programmierer leisten können, aber für den Hobbycoder oder Freiberufler ist das nicht so einfach, wie sich das die Strategen bei WordPress ausgedacht haben.

Bis ich auf Gutenberg umgestellt haben werde, werden wohl noch ein paar Wochen vergehen. Bis dahin bleibt Gutenberg für mich Gensfleisch.

Wieder einmal durchgewurschtlovat

Die Veranstaltung verlief natürlich auf Tschechisch, und hier und dort mit Slowakisch und tschechisierten englischen Fachbegriffen. Beispiel: “kustomizovat”. Also: “kustomisieren”. Sagt man das in Deutschland? Seit ich nur noch selten dorthin fahre, werde ich immer wieder von monströsen Wortnewcreations überrascht. “Anpassen”, würde ich sagen, oder entsprechend “přizpůsobit” oder “uzpůsobit”. Alte Schule.

Ich war aber keineswegs der einzige Ausländer auf dem WordCamp. Hier und dort hörte ich neben mir Leute auf Englisch und Russisch sprechen. Mein tschechoslowakisches Hörverständnis reicht für die Beiträge und Diskussionen, aber zu einer Wortmeldung fehlt mir einfach das Vertrauen in die eigenen Fremdsprachkenntnisse.

Ich muss sagen, dass ich abends ziemlich fertig war. Dazu trug nicht zuletzt – um es mit einer WordPress-Metapher zu sagen – das zusätzlich in meinem Kopf mitlaufende Übersetzungs-Plugin bei. Am eigenen Blog lässt sich leicht verifizieren, dass Sprachmodule die Ladezeiten erheblich in die Höhe treiben können. Inzwischen ist meine cerebrale Kühlung wieder auf Normal.

Gedanken nach der Wiederwahl des Unwählbaren

Man muss nicht mit allen Positionen von Václav Havel übereinstimmen, aber ohne Zweifel steht er für einen Abschied der damaligen Tschechoslowakei vom Eisernen Vorhang und für eine Stärkung der Zivilgesellschaft, in der Annahme dass die Bürger mündig genug seien, um Verantwortung übernehmen zu können. Seitdem hat sich das Land langsam empor gearbeitet, auch durch Krisen hindurch. Momentan geht es ihm so gut wie kaum zuvor, und man lebt hier so sicher und in Frieden mit den Nachbarn wie selten in der Geschichte der Region. Tschechien scheint seinem nationalen Ziel von einem Märchenland so nahe gekommen zu sein wie nie zuvor.

Ich lebe hier seit nunmehr 15 Jahren. Ich bin mit einer guten Portion Naivität, Abenteuerlust und Mittel-/Osteuropa-Verklärung gekommen, und ich habe es nach einem ersten, ernüchternden Jahr in den 90ern später noch einmal etwas pragmatischer versucht. Es fanden sich Jobs, Wohnungen, und sogar eine Ehefrau, die aber nicht ursprünglich von hier war.

Es gab jedoch nie einen Grund, weshalb ich gerade hier wohnen sollte. Tschechien war immer ein schönes Reiseziel für Kurzurlaube, um mal alles zu machen, was man zu Hause wegen äußerer und innerer Zwänge nicht machen konnte. Nie aber war ich wirklich angekommen. Es war immer so, als hätte die Gesellschaft keinen Platz vorgesehen für Fremde, die kamen und länger als ein paar Jahre blieben.

Ein Jahr gesellte sich zum anderen. Wer mal in der Fremde gelebt hat, der kennt vielleicht den Unterschied: Man bleibt nicht, weil man sich dazu entscheidet, sondern weil einem die Kraft und die Alternativen fehlen, weil man zu abgelenkt ist. Dann ist es plötzlich Winter, und Sommer, und man ist immer noch da.

Typischerweise reagieren meine Bekannten aus Deutschland mit Oh! und Ah!, Prag sei doch sooo schön, Tschechien so idyllisch. Und Probleme gebe es doch überall, nicht wahr? Mir kommt es immer so vor, als sähen sie mich in der Pflicht, ihnen dieses Märchen zu erhalten, diese schillernde Seifenblase.

Wenn man hier lebt, dann spielen jedoch völlig andere Dinge eine Rolle: Landespolitik, Behörden, der Umgangston im Haus, ob Postpakete bei Nachbarn hinterlegt werden können oder spurlos verschwinden, Umweltschutz, Solidarität unter Mitbürgern und zu anderen Staaten, die Unterstützung gemeinnütziger Organisationen, unverhohlene Interessenkonflikte bei führenden Politikern, überteuerte und minderwertige Lebensmittel, handfest gegängelte Medien, alkoholisierte und vulgäre oder kleptomanische Staatsoberhäupter, Angriffe auf Ausländer und anders Aussehende, und bei all dem, was die Öffentlichkeit darüber denkt, ob sie beunruhigt, gleichgültig oder sogar stolz darauf ist.

Der Reiz Tschechiens nicht nur für viele Reisegruppen, sondern auch viele Einheimische ist, dass man sich hier gehen lassen kann, dass man nicht erwachsen werden muss, dass man sich von seinen unmittelbaren Wünschen leiten lässt und alle Klugheit, Rücksicht und Voraussicht in den Wind schlägt. Diese Unwerte verkörpert Präsident Zeman wie kaum ein anderer. Und er macht es überzeugend wie ein versierter Talkshowgast, der mit seinem selbstbewussten Danebenbenehmen die Mengen zum Johlen bringt.

In seinem immensen egoistischen Fahrwasser breitet sich etwas aus, was man als eine neue Ära der Normalisierung bezeichnen könnte. Seine gestrige Wiederwahl ist vielleicht nur das Symptom einer tiefer sitzenden Misere, aber sie bestärkt und ermöglicht ein Denken, das in die Tschechoslowakei der 80er gehört.

Es geht in kleinen Schritten bergab, und der gestrige Schritt war definitiv eine große Enttäuschung, eine vertane Chance für das Land und seine Zukunft. Als Ausländer, als Migrant aus dem Nachbarland, der hier nicht wählen darf, der aber umso mehr auf die Gastfreundschaft der Gastgeber angewiesen ist, auf eine Würdigung langjähriger Investitionen, wird man diese gestrige Wahl als wichtigen Faktor verbuchen, mit dem man dieses ewig aufgeschobene Fast-Zuhause bewerten wird. Das abschließende Urteil wird je nach Persönlichkeit und individuellen Lebensumständen verschieden ausfallen, aber diese Wahl wird sich, wie so vieles Andere, darin widerspiegeln.

Tschechien wird letztendlich seinem Traum von einem Märchenland, in dem nichts Neues droht und nur noch Bewunderer vorhanden sind, immer näher kommen. Die Welt wird hier wieder am schönsten sein, weil sie an den Grenzen aufhört.

Der Wiedereintritt eines Landes in seine Pubertät.

 

 

 

Foto: Spartakiada – typische Massenveranstaltung aus der Ostblock-Zeit by footysphere

Photo by PIRO4D (Pixabay)

Definition von Zuhause

Zuhause ist dort, wo man sich nicht sagen lassen muss: Wenn es dir nicht gefällt, dann kannst du ja gehen.

 

Diese Definition ist mir gerade eingefallen. Sie ist sicher nicht erschöpfend, aber sie steht neben zwei weiteren, die ich sehr treffend finde:

 

Zuhause ist dort, wo man sich nicht erklären muss.

 

– vielleicht die bekannteste und treffendste Definition.

 

Zuhause ist dort, wo man sich am meisten über die Politik ärgert.

 

– eine Weisheit von meiner Großmutter.

 

Zum Teil sind die Ergebnisse dieser Definitionen mehrdeutig oder widersprüchlich. Aber darin besteht eben auch ihre Stärke, dass sie nichts reduzieren.

Die Suche nach weiteren Definitionen geht natürlich weiter.

 

Photo by PIRO4D (Pixabay)

Eine kurze Betrachtung des Fremden in Prag

Prag. Wenn ich über Prag nachdenke, muss ich zuerst eine dicke Schicht an Kitsch beiseite schieben, die von wohlmeinenden Besuchern, Suchenden nach einer heilen Welt auf Böhmisch, und auch den Einheimischen in einer erfolgreichen Selbststilisierung angereichert wurde. Wenn man Bier, Knödeln, Weihnachtsmärkten und einer etwas verschrobene Lebensart, ähnlich dem bayerischen “Mir san mir”, eine Absage erteilt, hat man sich schon überall Feinde gemacht. Böhmen ist so eine Art unantastbares Elysium.

Prag ist eine Großstadt, Hauptstadt, Metropole. Daran will ich es messen, nicht an Švejk-Bierstuben und den ewigen Promofotos von der Burg im Morgendunst, Idylle über Idylle, und alles ist nicht nur schön, es ist das Schönste der Welt, wie auch das tschechische Bier das beste Bier der Welt sein muss, sonst ist alles verloren. Mir geht es gar nicht darum, irgendwelche Ranglisten umzustoßen, sondern einfach diese Notwendigkeit, die Nummer Eins zu sein, und zwar die Nummer Eins als Dogma. Da wird nichts Anderes probiert, da wird auch nicht die alternative Meinung willkommen geheißen, weil sie von einer Vielfalt zeugt und von der Bevorzugung der Menschen dessen, was ihnen gewohnt und lieb ist. “Das Beste” ist eine persönliche, subjektive, lokale Kategorie, und als solche liebenswert, und ansonsten anmaßend.

In Prag wurde längst das Hipstertum als Geschäftsmodell entdeckt. Vollbärtige, tätowierte, baseballkappentragende Männer in Holzfällerhemden servieren Craft Beer und einen leichten Salat auf Tischen aus angemalten Paletten, wo früher noch versiffte Spielhallen regungslos vor sich hin gedämmert hatten. Auf einmal kommt das Geld herein, und die Kunden sind bereit, fast die doppelten Preise für das Lebensgefühl zu zahlen. Das neue Prag fühlt sich wohl von Brooklyn inspiriert, mit MacBook im Bistro und Community-Garten auf dem Dach.

Aber dann jedes Wochenende wieder das gleiche Schauspiel: Freitagnachmittag fliehen die Prager aus der Stadt, um Sonntagabends wieder zurück zu strömen. An Sonntagen haben viele Kneipen geschlossen, auf den Straßen sieht man die gesellschaftlich Abgehängten, Gruppen an Roma stehen an den Haltestellen, und fast erwartet man einen Steppenläufer über die Straßen trudeln.

Wenn ich an die letzten zehn Jahre zurück denke, hat sich in Prag unglaublich viel getan. Aber irgendetwas fehlt da noch. Vielleicht die kritische Masse an Leuten mit Ideen? Ich glaube, was mir fehlt, ist die Internationalität. Ich spreche nicht von Touristen, und auch nur begrenzt von Langzeitgästen wie Austauschstudenten und dergleichen. In Prag herrscht immer noch ein ethnisch definiertes Primat des Tschechischen, wo sich alles Fremde nur dort niederlassen kann, wo ansonsten Brachland wäre. Also sprießen vietnamesische Bistros und Spätläden, und indische Restaurants, und was sonst noch so an Fremdem herumschwirrt, findet sich in den Großraumbüros großer Firmen, wo man auf Englisch kommuniziert und das billige Bier nach Feierabend genießt. “Ethnische”, also vor allem Bewohner mit außereuropäischen Vorfahren, scheinen irgendwie alle mit Lebensmitteln ihr Geld zu verdienen, und zwar zumeist in ausgesprochen bedienenden Positionen. Oder sie sind unsichtbar, unscheinbar, überhaupt nicht interessiert, dem Leben ihren Stempel aufzudrücken. Die einzige Ausnahme bildet das touristische Zentrum, eine riesige Parallelwelt in einer parasitären Symbiose.

Wenn man in Läden und Bistros merkt, dass der Kunde nicht von hier ist, wird er auf Englisch angesprochen. Und wenn er auf Tschechisch begann, wird er vielerorts wieder in “seine” englischen Schranken zurück verwiesen – wobei Englisch nun wirklich nicht die Muttersprache eines jeden Ausländers ist. Warum kann man nicht die Vielfalt (und dazu zähle ich selbst europäische Kulturen) als Bereicherung empfinden, statt etwas, das bewältigt und geregelt werden muss? Bis dieser Schritt geschafft ist, fehlt Prag das entscheidende Stück zur Metropole.

Photo by willbeeps